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Die gefährliche Halbwahrheit: »Du kannst die anderen nicht ändern, nur dich selbst«
#Gütersloh, 12. November 2025
Opfern wird regelmäßig gesagt, sie könnten andere nicht ändern, nur sich selbst. Das ist gerade in akuten Situationen höchst toxisch – denn was soll das #Opfer dann denken? Dass es letztlich selbst an allem #Schuld ist? Dass es sich nur »anders verhalten« müsse, um nicht mehr verletzt zu werden? Die Wahrheit ist viel komplexer.
Es gibt Sätze, die klingen so vernünftig, dass man sie kaum hinterfragt. »Du kannst die anderen nicht ändern, nur dich selbst« ist einer davon – ein Dauerbrenner aus der #Lebenshilfe Ecke, ein #Mantra der #Selbstoptimierung. Er soll #Trost spenden, #Gelassenheit lehren, #Eigenverantwortung betonen. Und doch: In seiner absoluten Form ist dieser Satz gefährlich. Nicht, weil er falsch wäre, sondern weil die Wahrheit, die er enthält, viel komplexer ist, als er zugibt.
1. Wenn #Weisheit zur #Waffe wird
Im besten Fall erinnert uns der Satz daran, dass wir über unser eigenes Verhalten mehr Kontrolle haben als über das anderer. Das stimmt – zumindest kurzfristig. Wer beleidigt wird und »bis zehn zählt«, bevor er reagiert, übt gesunde Selbstkontrolle.
Das ist reife #Selbstführung, nicht #Selbstverleugnung.
Doch in seiner absoluten Anwendung kippt der Satz ins Zynische. Wenn jemand Leid erfährt – #Gewalt, #Ausgrenzung, #Ungerechtigkeit – und man ihm dann sagt: »Du kannst die anderen nicht ändern, nur dich selbst«, dann wird aus Lebensweisheit eine Schuldumkehr. Plötzlich ist das Opfer verantwortlich, »sich zu ändern«, statt dass man die Täter oder die Strukturen hinterfragt.
Im Grunde genommen werden #Täter durch diese #Logik sogar entlastet und entschuldigt – denn die These lässt sich auch so deuten: »Die sind halt so.« Das ist doppelt #paradox: Zum einen banalisiert es Taten (»Tja, so sind Menschen eben«), und zum anderen setzt es das Opfer herab. Wenn der Täter »halt so« sein darf – warum darf das Opfer es nicht? Warum gilt die Nachsicht nur für die Gewalt, nicht für die Wunde? Hier zeigt sich die moralische Schlagseite dieser scheinbaren Lebensweisheit: Sie schützt #Macht und beschämt #Ohnmacht.
2. Emotionale Arbeit ist kein Knopfdruck
Auch der Gedanke, man könne sein Inneres einfach »ändern«, ist problematisch. Emotionale Selbstkontrolle ist keine Taste, die man drückt, sondern ein Prozess – oft ein lebenslanger. Trauma, Verlust, Schuld, Scham: Das sind keine Reize, die man einfach »wegtrainiert«.
Wer den Satz absolut versteht, verkennt diese Tiefe. Er ignoriert, dass Selbstveränderung Zeit, Schmerz und Auseinandersetzung braucht – und dass Verdrängung keine Heilung ist. Oder, wie es #Viktor #Frankl schrieb: »Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.«
Dieser Raum ist kostbar – aber er ist kein Freibrief, Gefühle zu überspringen.
3. Der #Heringsschwarm und die Lüge der Isolation
Ein Bild: Ein #Hering wird vom #Schwarm ausgegrenzt. »Du kannst die anderen nicht ändern, nur dich selbst«, sagt man ihm. Heißt das: Schwimm gefälligst so wie die anderen? Passe dich an? Aber ein Schwarm funktioniert anders. Jeder Hering beeinflusst die Richtung aller anderen, und der Schwarm verändert zugleich jeden einzelnen. Es gibt kein »rein individuelles« Verhalten – jeder verändert jeden, ständig. Das ist das Leben: gegenseitige Formbarkeit. So gesehen ist der Spruch schlicht biologisch falsch. Das Leben selbst ist #Beziehung, #Resonanz, #Rückkopplung.
4. Inseln, aber nicht zu weit entfernt
#Mike #Oldfield, der große musikalische Grenzgänger, brachte es einmal poetisch auf den Punkt: »We are islands, but never too far.« Wir sind Inseln – ja. Wir haben Grenzen, Innenräume, Identität. Aber wir liegen nicht isoliert im #Meer, sondern in Sichtweite zueinander. Jede Bewegung ruft eine Welle hervor, die andere erreicht.
Das ist, philosophisch gesprochen, das Prinzip der #Holarchie: Jedes Ganze ist zugleich Teil eines größeren Ganzen. Ein Mensch ist ein #Holon in der #Gesellschaft, wie ein #Hering im Schwarm, ein Ton im Akkord. Autonomie ohne Beziehung ist Illusion.
5. #Watzlawick und die Unausweichlichkeit der Beziehung
Der Kommunikationspsychologe Paul Watzlawick sagte einst: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« Selbst Schweigen, Rückzug, Passivität ist Mitteilung. Auch der #Eremit, der sich in die Einsamkeit zurückzieht, kommuniziert – durch seine Abwesenheit, durch die Spur, die er hinterlässt. Er verändert das Feld, das er verlässt.
Und genau darin liegt der Beweis: Auch wer sich nur sich selbst verändert, verändert immer auch andere. Veränderung ist nie ein Einzelakt, sondern eine Kettenreaktion.
6. #Ambivalenz als #Wahrheit
Der Satz »Du kannst die anderen nicht ändern, nur dich selbst« ist also weder falsch noch richtig. Er ist ambivalent – wie das Leben selbst. Er kann #Befreiung bedeuten oder #Unterdrückung, je nachdem, wie man ihn verwendet.
Die reife #Lesart wäre: »Du kannst nicht erzwingen, dass andere sich ändern – aber du kannst dich so verändern, dass andere sich mitverändern.« Oder noch einfacher: »Niemand ändert sich allein – wir verändern uns immer miteinander.«
Und unter Umständen kann man andere doch verändern – ihr Denken und ihr Handeln. Das ist sattsam bekannt. Sogar in der Demokratie gibt es Korrektive, deren Sinn und Zweck genau das ist.
7. Gegen die #Tyrannei der #Einfachheit
Vielleicht ist das die eigentliche Botschaft: Das Leben lässt sich nicht in Sprüche pressen. Jeder Versuch, eine Wahrheit absolut zu machen, verwandelt sie in Ideologie. Das gilt für #Politik, #Religion, #Psychologie – und eben auch für Lebensweisheiten.
Der Spruch ist nicht falsch. Aber seine absolute Deutung ist toxisch, weil sie das leugnet, was uns menschlich macht: dass wir in jeder Sekunde einander berühren, beeinflussen, verändern – bewusst oder unbewusst, liebevoll oder grausam, immer im Austausch.
Und vielleicht gilt gerade deshalb, mit Mike Oldfield zu sagen: »We are islands, but never too far.«